Freitag, 22. Juli: SANDGERÐI – (Keflavik – Sandgerði)/18 km: Am Ziel!

 

17. Oktober 2016 Marsollek

islandkarte-27-28

Ruhetag.

Mußetag.

Tag zum sich Sammeln und Resümieren, aber auch zum Ordnen, Packen,  Erinnern, Ausruhen.

NOCH ZEIT HABEN! Das war vor Beginn der Tour schon so eingeplant…

Heute ist ein fast „stationärer“ Tag für mich:

Etwas länger geschlafen, geschrieben, gefrühstückt. Bevor die Kronshages ihre Reise fortsetzen, spritzt Lothar den Bus noch sorgfältig mit klarem Wasser ab. Das ist üblich, mitunter sehr nötig und fast auf allen Zeltplätzen möglich, passiert man doch auf seiner Reise des Öfteren aktive, rauchende Lavafelder mit Schwefel-, Schwefelsäure- und anderen ätzenden, aggressiven Dämpfen, die schnell den Autolack angreifen können. Island, das Land der Gletscher, Geysire und Vulkane! (Kein Witz: Ich werde zum Beispiel erst nach meiner Rückkehr in Bochum bemerken, dass sich mein vor der Reise im wesentlichen silberfarbiger Fahrradhelm mit schwefelgelber Patina überzogen hat. Meine teure, drei Jahre alte Gleitsichtbrille wies vor der Tour erste kleine Schäden an der Spezialbeschichtung auf. Nach der Tour war die Beschichtung praktisch aufgelöst, es wurden neue Gläser fällig…)

Den Wagen „gewässert“, startklar:  Auf Wiedersehen in Bochum… Die aus einem finnischen Schulatlas stammende Karte ist übersichtlich: Ich landete nach über dreistündigem Flug vor vier Wochen in Keflavik, umrundete Island von Sandgerði aus entgegen dem Uhrzeigersinn in zweifach größerem Maße als es die rotangedeutete Ringstraße aufzeigt und kam gestern – nach fast 2600 km ausschließlich per Rad – wieder in Sandgerði an. Die Kronshages kamen nach zweitägiger Seefahrt von Hirtshals/DK kommend vor acht Tagen in Seyðisfjörður ganz im Osten an,  etwa als ich ungefähr 100 km vor Borgarnes mein allererstes Mal im Leben im Pferdesattel auf Prinz meinem echten isländer Wikingerpferd saß und fuhren im Uhrzeigersinn nach Süden.  Längst noch nicht ganz fließend, durchaus aber „sprudelnd“: Já, jech talar núna svo litla íslensku!                                                                                    Die Frage und das Reiselogo entwickelt als Vorhaben. „Kurbeln“ musste ich selbst. Mit Unterstützung bewährter und neuer Partner fiel mir die Optimierung der Ausrüstung aber leicht, sodass „Islandpferd und Papageitaucher“ stellvertretend für alle Vorhaben von „Waldorf on the Road II“ Realität wurden.

Das inzwischen 10 Jahre alte AKTO, (auf beiden Bildern oben, während der Tour 2013), wie unser immer noch voll funktionsfähiges, 29 Jahre altes STALON – und in Weiterentwicklung das neue,  diesmal rote ENAN (unten) – haben fertig eingehängte, schnell ausknüpfbare Innenzelte für den „trockenen“ Schlaf bei richtigem Handling; das u.U. außen nasse Reisegepäck hat immer genug Raum unter dem Außenzelt. Das Rad ist Fahrzeug und Träger, es verfügt sogar über Fernlicht  und versorgt per USB-Anschluss alle mitgeführte „Reiseelektronik“…   Arktischer Bärenklau „leuchtet“ mitunter im Blassorangefarbton, im Küstenbereich islandweit. In Nordnorwegen heißt er „Tromsöpalme“…Tunnelpassagen über kaum 500 m hohe Bergformationen (hier in der Nähe von Höfn) können innerhalb von 1-2 Kilometern  und wenigen Minuten Reisezeit vom beständigen Regenwetter in strahlend blaues Himmelspanorama überführen…Das „Schaf im Schafspelz“(bitte nur oben…): Es gibt auf Island mehr Schafe als Isländer. Die meiste Island-Wolle wird jedoch nicht geschoren, sondern geht im Laufe des Sommers verloren: am Strauchwerk, an Moosen, an Steinen…,  zum Teil in meterlangen „Strähnen“.Ein Harry Potter Band in der etwa 30. Sprache fürs „Hausarchiv“ und ein erstes Isländischwörterbuch dazu, erstanden in Akureyri. Zwar 1kg Zusatzgepäck, zugleich aber auch Riesenfreude über den Kauf: Ich brauche danach nicht mehr in Reykjavik zu suchen. Das Foto schoss  übrigens ein Amerikaner. Es fiel ihm das Waldorflogo meiner Jacke auf: Sein  Freund ist in Amerika Waldorflehrer und Extremradler. Die Welt ist klein… OBEN/UNTEN: Absolute Stille in motorfreier Abgeschiedenheit am sehr frühen Morgen oder Touristenhype mit Amphibienfahrzeug, Neoprenanzug und Schwimmweste nur etwa 10 -15 km entfernt und 5 Stunden später am gleichen „Gewässer“? Beides ist möglich…OhneWorte,sprachlos…,

…überall aber auch, hängt in dieser Umgebung, wo es brodelt, „pafft“, plätschert, aus kochend heißen Quellen blau leuchtet und alle paar Minuten zischt, wo Singvögel im Sommer aber dennoch – bis auf die hellen Nachtstunden – ununterbrochen „zwischentirillieren“, beständiger Schwefelgeruch in der Luft…Nachts und am sehr frühen Morgen ist es hier menschenleer (der kleine Zeltplatz ist nur wenige hundert Meter entfernt), zur Tageszeit teilt man die  Erlebensfreude gern, wenn es nicht zu eng wird…

ABER: In der Hochsaison verbrühen sich in Geyzir im Schnitt wöchentlich 3 Touristen an der 100°C heißen, etwa 35 m hohen Wasserfontäne durch Missachtung der Beschilderungen und Absperrungen während der Jagd nach sensationellen Selfies…

Ruhetag. Mußetag. Tag zum sich Sammeln und Resümieren, Ordnen, Packen, Erinnern, Ausruhen.

NOCH ZEIT HABEN! Das war vor Beginn der Tour schon so eingeplant…

Michaela und Lothar sind abgereist, neue Gäste bevölkern den Campingplatz. Ich lade das IPhone an einer Steckdose im Duschraum, genieße die heiße Dusche, deponiere – wie andere vor mir – überschüssiges Proviant für die Nachfolgenden in der kleinen geschützten Freiluftnische unter dem Dach des Sanitärgebäudes bei den Geschirrspülbecken: Spaghetti, Olivenöl,  Tütensuppen, Butter, Brot, Teebeutel, Trinkflaschen, Dosen, Besteck, Küchenrolle: Alles hier „an dieser reichgedeckten Tafel“ zum Gratisangebot. Am Boden fand ich hier zum Start vor vier Wochen unter den vielen Gasflaschen die passenden halbvollen Dosen für meinen Primus-Multifuel-Kocher. Jetzt landet hier eine volle, kleine Dose, die ich vor über 2000 km als eiserne Reserve im letzten Winkel der Provianttasche verstaut hatte. Die halbvolle, „große“ Flasche mit passendem Gewindeanschluss, die am frühen Abend das „Angebot“ noch vergrößern wird, findet ganz schnell einen glücklichen Weiternutzer.

Renata, die inzwischen eingebürgerte Polin, die hier in Sandgerði ganz in der Nähe wohnen soll, jetzt aber im Netto-Suppermarkt in Keflavik Dienst hat informierte mich damals, dass passende Campinggasflaschen wegen der Explosionsgefahr nicht in Supermärkten, aber an Tankstellen erhältlich ist. Stimmt. Auch am Wochenende.

„Entschuldigung, sprechen Sie Deutsch? Mein Mann ist mit dem Auto zum Einkaufen gefahren und ich sollte kochen. Haben sie einen Dosenöffner? Unser Öffner ist jetzt im Mietauto unterwegs“, spricht mich etwas ratlos eine junge Camperin mit zwei Dosen roter Bohnen in den Händen an, als ich gerade mein Equipment sortiere. Ich habe keinen Dosenöffner, gewinne den „technischen Wettstreit“ aber spielend  gegen einen nicht deutsch sprechenden älteren Isländer mit Frau im Campingwagen nebenan, deren Dosenöffner Startschwierigkeiten hat, das 1980 in Tampere erstandene Finnmesser und meine Erfahrung damit aber in weniger als 10 Sekunden das kulinarische Problem lösen.

Kurze Zeit später wird mein Öffnergeschick nochmals von einem anderen jungen Zeltlerpärchen in Anspruch genommen. Als Dank – diesmal kocht der Mann – bekomme ich eine stattliche Portion köstlichen vegetarischen  „Curry-Risottos mit Bambussprossen“ serviert – eine willkommene Stärkung vor meinem Ausflug nach Keflavik auf der Suche nach Renata, der Neu-Isländerin.

Auch der Lavaboden der 10 km Trasse von Sandgerði nach Keflavik ist bewachsen mit arktischen Lupinen, „deren Samen bei uns in Deutschland aber nicht keimen wollen“, sagte  mir  Angelika Jaschke, als ich sie im Tobiashus, bei der Waldorfschule außerhalb Reykjaviks besuchte. Ich finde bei meiner Rad-Spritztour ohne Gepäck „wie im Fluge“ genügend reife Schoten und will nächstes Jahr im Garten einen „Anbauversuch“ wagen.Wilder Thymian wächst islandweit auch an kargsten Stellen und besiedelt als Pionierpflanze Lavaschutt. Auf der Rückfahrt von Keflavik nehme ich zwei kleine Pflänzchen mit etwas Mutterboden mit und verstaue sie am Campingplatz in einer leeren Butterdose (sie werden angehen…). Skyr und einige andere kulinarische Mitbringsel, inzwischen auch in Deutschland eigeführt, bereichern mein Gepäck…

 

Ach wie schön, Renata ist um 15 Uhr noch im Dienst. Wir erkennen uns gleich wieder und unterhalten uns bestimmt die ersten 10 Minuten lang auf Isländisch, bevor wir – entgültig – in Polnische wechseln. Sie freut sich sehr über die Wiederbegegnung und wurde von ihren Mitarbeitern informiert, dass ich gestern dagewesen bin.

„Wann geht Dein Flug?“, fragt sie. „Morgen um sechs?, da könntest du doch heute um sieben noch auf einen Kaffee vorbeikommen, meinen Mann und den zweijährigen Sohn kennenlernen und wir könnten Quatschen. Ich wohne ganz in der Nähe des Campingplatzes, da werde ich dich abholen. Hoffentlich finde ich dich…“

Welch ein Angebot! Ich nehme es an, auch wenn ich nur Teetrinker bin…

Zurück in Sandgerði  koche ich mir eine Riesenportion „öl-butter-kräutergetunte“ Chillibohnen, fertige Reisebrote, motte die Campingküche ein, entsorge an der „Tafel“ Restproviant und Gas, packe das staubtrockene Zelt ein, bepacke Stóri-karl reisefertig und helfe zwischendurch im bequemen Campingsessel lehnend, lesend und ruhend,  frisch angekommenen „Dänen aus Amerika“,  den Schlüssel für ihre Ferienhütte zu bekommen. Fertig!

Den Beschluss, schon vor dem Besuch bei Renata reisefertig zu sein fasse ich, nachdem ich für die kommende Nacht eine recht hohe Regenwahrscheinlichkeit ausmache. Die isländische Wettervorhersage ist meistens sehr zuverlässig! Auch diesmal.

Kurz nach 19 Uhr kommt Renata mit ihrem zweieinhalbjährigen Söhnchen vorbei – ich kann es trotz Vorwarnung nicht fassen, er ist so groß wie ein Vierjähriger – und holt mich ab.

Ihr Eigenheim, in das sie vor 4 Monaten eingezogen sind, liegt ganz in der Nähe, ist riesig und luxuriös ausgestattet und neben dem Söhnchen, der dem hühnenhaften Papa in die Arme fält, der ganze Stolz der Familie. Auch die von innen erreichbare Doppelgarage hat Fußbodenheizung, die Terrasse vor der Garage auch, damit man im Winter nicht ausrutscht. Standard bei Neubauten. Energiepreise sind niedrig auf der Vulkaninsel.

Sie haben noch viele Anbaupläne mit Wintergarten und Heißwasseraußenpool und, und…

Das Söhnchen braucht dringend ein Schwesterchen (Mamawunsch) oder ein Brüderchen (Papawunsch). Oder beides.

Schwierig.

Papas Schicht beginnt, er verlässt kaum, dass wir uns miteinander bekannt gemacht haben das Haus und räumt nachts mit einer polnischen Putzkolonne alle Supermärkte Keflaviks auf.

Mamas Schicht als Vizechefin bei Netto beginnt kaum eine Stunde nachdem der Papa von der Arbeit zurückgekehrt ist. Ein Kindermädchen hilft als Überbrückung zwischendurch.

Schwierig…

Renatas Mann, versteht nach einem Dutzend Jahren im Lande zwar gut Isländisch, er spricht es aber der Umstände wegen kaum. „Das wird im Februar besser, wenn er in einer kleinen Tischlerei anfängt“, hofft Renata – dort wird nur Isländisch gesprochen…

Beide sind aber über die Auswanderung sehr glücklich. Und froh, etwas sicherer, etwas weiter weg von den Problemen Europas entfernt zu sein. Gerade läuft und schockiert uns im Fernsehen ein Bericht über einen Terroranschlag in München mit vielen Toten, Nizza ist erst ein paar Tage her, die Anschläge von Brüssel und Paris liegen nicht weit zurück…

Kontakt zur ihrer alten Heimat haben sie noch und fliegen auch gelegentlich hin. Im Sommer ist es ihnen dort aber viel zu heiß.

Renata hat als einzige von 6 Geschwistern studieren können. Es war in Polen für die anderen zu teuer. Sie ist dankbar. Ihre Mutter lebt noch. Sie ist viel gereist, hat in vielen Ländern Europas gejobbt, einmal ein halbes Jahr in Norwegen, ohne dafür Lohn erhalten zu haben. Bitter. Deutschland bereiste sie nie: Ihr Großvater starb dort als Zwangsarbeiter. Mich hielt sie bis heute „für einen halben Polen“.

Renata liebt Island, die Menschen, die Offenheit, das Entgegenkommen Fremden gegenüber, den Vertrauensvorschuss den man gewährt, wenn man ihnen  Arbeit hierzulande anbietet.

ABER: „Nur, ein Vergehen, ein Strafzettel und du kannst deinen Einbürgerungsantrag für 10 Jahre oder für immer vergessen, so sind die klaren Regeln“, meint sie.

Renata ist sehr stolz darauf, seit 2016 eine frisch eingebürgerte Isländerin zu sein. Die Prüfung – die Sprachkenntnisse betreffend – dem Abitur vergleichbar hat sie noch in guter Erinnerung. Ihr Sohn ist hier geboren, er spricht zwar kaum, ist aber auch Isländer.

Sein Papa ist es noch nicht.

Ich werde von meiner Gastgeberin mit Tee und leckerem Kuchen bis zum Abwinken verwöhnt und bleibe bis 22.30 Uhr zu Gast. Dann verabschieden wir uns ganz herzlich und ich starte erfrischt von Sandgerði aus zum Flughafen Keflavik, der etwa 4 km vom Ort gleichen Namens entfernt ist. Der Regen beginnt, kaum dass ich den Flughafenkomplex erreicht habe.

Ganz lieben Dank für alles und auf Wiedersehen, liebe Renata…

Der isländische Pass das Söhnchen, do zobaczenia, Renato!

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